Probleme unter null Grad und LN2
Die Entwicklung von Wärmeleitpasten, die auch bei extrem niedrigen Temperaturen, im sogenannten Tiefsttemperaturbereich, zuverlässig funktionieren, stellt eine wichtige Herausforderung in der Materialwissenschaft und -technik dar. Dazu gehört im PC-Bereich auch das spezielle Feld des Übertaktens im Tief- bzw. Tiefsttemperaturbereich, z.B. mit Flüssigstickstoff (LN2). Silikonbasierte Wärmeleitpasten sind aufgrund ihrer inhärenten thermischen Stabilität, Flexibilität und chemischen Inertheit beliebt. Allerdings kann die Leistungsfähigkeit dieser Materialien bei sehr niedrigen Temperaturen durch eine Zunahme der Viskosität oder durch sprödes Verhalten beeinträchtigt werden.
Das Overclocking mit flüssigem Stickstoff (LN2) stellt allerdings extreme Anforderungen an die Hardware und die verwendeten thermischen Interface-Materialien, insbesondere die Wärmeleitpaste. Für diesen speziellen Einsatzbereich entwickelte Wärmeleitpasten müssen unter extrem niedrigen Temperaturen, oft unter -196 Grad Celsius, effizient arbeiten. Diese Pasten sind so formuliert, dass sie bei solchen Bedingungen nicht einfrieren, ihre thermischen Eigenschaften beibehalten oder sogar verbessern und keine Risse oder Brüche durch die extreme Kälte und die damit verbundenen thermischen Spannungen entwickeln. Obwohl diese Eigenschaften für LN2-Overclocking essentiell sind, machen die spezifischen Anforderungen und Formulierungen dieser Wärmeleitpasten sie für den Normalbetrieb bei Raumtemperatur eher unpraktisch und in vielen Fällen sogar komplett sinnlos.
Eine der Schlüsselstrategien zur Verbesserung der Tiefsttemperaturleistung von Silikon besteht nun in der Modifikation seiner Polymerstruktur. Silikonpolymere (Polysiloxane) bestehen, das schreib ich gerade auf der vorigen Seite, aus Silizium-Sauerstoff-Ketten, an die organische Seitengruppen gebunden sind. Die Flexibilität dieser Ketten bei niedrigen Temperaturen kann durch die Einführung von Seitengruppen mit niedrigerem Glasübergangspunkt (Tg) verbessert werden. Zum Beispiel können phenylhaltige Silikone im Vergleich zu den herkömmlichen methylhaltigen Silikonen bei niedrigeren Temperaturen flexibel bleiben, da Phenylgruppen die Beweglichkeit der Polymerkette auch bei niedrigen Temperaturen erhöhen.
Diese Fähigkeit, thermische Kontraktion ohne Rissbildung oder Delamination zu widerstehen, ist entscheidend, da jede Unterbrechung im thermischen Interface die Kühlleistung erheblich beeinträchtigen kann. Darüber hinaus sind diese Pasten so konzipiert, dass sie eine maximale thermische Leitfähigkeit bei Temperaturen bieten, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen – ein Merkmal, das in Standardanwendungen nicht erforderlich ist.
Die Zugabe von speziellen Additiven kann die Kryogenbeständigkeit von Silikonwärmeleitpasten weiter verbessern. Kryoprotektive Additive, wie bestimmte Polyalkylenglykole oder Kryofluids, können in die Silikonmatrix eingebettet werden, um die Bildung von Eiskristallen innerhalb der Paste zu verhindern oder zu minimieren. Diese Additive können als “Anti-Frost”-Agentien fungieren und sicherstellen, dass die Paste auch bei extremen Kältebedingungen eine homogene und leitfähige Schicht bildet.
Optimierung der Verarbeitung und Aushärtung
Die Verarbeitungs- und Aushärtungsbedingungen von Silikonwärmeleitpasten müssen ebenfalls für den Einsatz bei Tiefsttemperaturen optimiert werden. Die Aushärtung bei kontrollierten Bedingungen kann dazu beitragen, interne Spannungen zu minimieren, die bei Temperaturwechseln zu Rissen führen könnten. Zudem kann die Auswahl von Aushärtungssystemen, die bei Raumtemperatur oder unter milden Bedingungen aushärten, die Integrität der Paste in Bezug auf kryogene Anwendungen verbessern. Die Modifikation von Silikon in Wärmeleitpasten für den Einsatz im Tiefsttemperaturbereich erfordert eine multidisziplinäre Herangehensweise, die Materialwissenschaft, Chemie und Physik umfasst. Durch die gezielte Anpassung der Silikonpolymerstruktur, die Auswahl kompatibler Füllstoffe, den Einsatz kryoprotektiver Additive und die Optimierung der Verarbeitungsabläufe. Zum Einsatz von Einsatz von kryokompatiblen Füllstoffen komme ich allerdings später noch einmal zurück, hier soll es erst einmal um die spezielle Matrix gehen, ohne die so eine Paste nie funktionieren würde.
Falsch verstandenes Marketing und hohe Kosten
Die Entwicklung und Herstellung von Wärmeleitpasten, die für LN2-Overclocking optimiert sind, ist kostenintensiv. Diese Kosten werden natürlich direkt an den Verbraucher weitergegeben, was diese Pasten für den alltäglichen Gebrauch reichlich unpraktisch macht, besonders wenn bedacht wird, dass herkömmliche Pasten bei Raumtemperatur ähnliche oder ausreichende Leistung zu einem Bruchteil der Kosten bieten. Dazu kommen die überoptimierten Spezial-Eigenschaften, denn obwohl diese die Wärmeleitpasten für extrem niedrige Temperaturen erst geeignet machen, sind sie bei Normalbetrieb nicht nur unnötig, sondern können auch direkt nachteilig sein. Beispielsweise kann eine Paste, die für Flexibilität bei extremen Kältegraden formuliert wurde, bei Raumtemperatur zu weich oder zu flüssig sein, was zu einem suboptimalen thermischen Interface führt.
Spezialpasten können schwieriger aufzutragen sein und eine regelmäßige Wartung erfordern, was für den durchschnittlichen Anwender unpraktisch ist. Die Notwendigkeit, die Paste häufig neu aufzutragen oder spezielle Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, um ihre Integrität bei Raumtemperatur zu gewährleisten, kann mehr Aufwand als Nutzen bedeuten. Bei Raumtemperatur bieten spezialisierte LN2-Pasten möglicherweise keinen erkennbaren Leistungsvorteil gegenüber herkömmlichen Wärmeleitpasten. Die thermischen Anforderungen des Normalbetriebs sind deutlich geringer, und die zusätzlichen Kosten und potenziellen Nachteile rechtfertigen nicht die Verwendung dieser spezialisierten Pasten.
Zwischenfazit und wohlgemeinter Hinweis
Während spezialisierte Wärmeleitpasten für LN2-Overclocking in ihrem Einsatzgebiet unverzichtbar sind und bemerkenswerte Leistungen unter extremen Bedingungen ermöglichen, sind sie für den Normalbetrieb bei Raumtemperatur in der Regel nicht geeignet. Die Eigenschaften, die sie für extreme Kälte optimieren, führen zu Kompromissen, die ihre Verwendung in Standardanwendungen unpraktisch, kostspielig und oft unnötig machen. Für die meisten Anwender und Anwendungen sind herkömmliche Wärmeleitpasten, die speziell für den Temperaturbereich des Normalbetriebs entwickelt wurden, die weitaus sinnvollere Wahl.
- 1 - Die drei großen P - Einführung zu Pasten, Pads und Putty
- 2 - Sinn und Zweck von Wärmeleitpasten
- 3 - Die große Abrechnung zwischen billig und teuer
- 4 - Die Matrix als Basis aller Pasten und Pads
- 5 - Silikonbasierte Pasten: Optimierung, Haltbarkeit, Zersetzung
- 6 - Wärmeleitende Füllstoffe sind wichtig
- 7 - Wie der Mahlgrad die Performance beeinflusst
- 8 - Silikon-Modifikation für Niedrigtemperaturen und LN2-Overclocking
- 9 - Der Herstellungsprozess von Pasten samt möglicher Hürden
- 10 - Sonderfall Flüssigmetall (LM)
- 11 - Sonderfall Graphitpads und Phase Changer
- 12 - Temperaturfenster, Ausdehnungsverhalten, Applikation
- 13 - Alterung und Zersetzung von Pasten und Pads
- 14 - Hersteller vs. Abfüller, irreführendes Marketing und Fazit
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